Sonntag, 31. Januar 2010

Christine Brückner: Lieber alter Freund

Die Fragen bleiben
Es ist der 24. Mai, das war über viele Jahre hin weg Dein Tag, lieber g.t. Nie habe ich an den Festen, die Du in Deiner Hinterhofwohnung in Kreuzberg gefeiert hast, teilgenommen. Ich wäre ein Fremdkörper gewesen, das weißt Du. Du hast unsere viele Feste nicht nur mitgefeiert, Du hast mit geistvoll-heiteren Reden zu ihrem Gelingen beigetragen. Wenn ich einen Orden erhielt, wenn ein Buch Premiere hatte. Du kanntest das Buch dann bereits, die letzten meiner Bücher hast Du nach Diktat ins Reine geschrieben. Sagte Dir etwas nicht zu, schriebst Du langsamer, warfst mir einen fragenden Blick zu; bei einem pointierten Satz hast Du aufgelacht. Ach, Dein Lachen! Es war das Kräftigste an Dir. Du hast laut gelacht, mit weit geöffnetem Mund. Herauslachen. Bei keinem anderen Menschen habe ich das gesehen oder gehört. Wie Dein Lachen, so war Dein Beifall, bei einem Aktschluß, nach einem Konzert. Du klatschtest mit hohlen Händen, dann wirkt der Schall kräftiger, Du hast mir das vorgemacht, gelernt habe ich es nicht.
Ich schreibe in der Vergangenheitsform. Unser Briefwechsel ist abgebrochen; es kommt nicht mehr in jeder Woche ein Brief aus Berlin, auf Bibelpapier geschrieben, der Briefkopf in einer feingestochenen eleganten Helvetica.
Um Dir diesen Brief schreiben zu können, habe ich die beiden Aktenordner hervorgeholt, habe geblättert, habe gelesen. Bei Dir werden ebenfalls zwei Ordner mit meinen Briefen stehen, eingeordnet hast Du die Briefe dort und hier, Du warst während eineinhalb Jahrzehnten zunächst „der kleine Sekretär“, damals warst Du noch Schüler, dann wurdest Du der Mitarbeiter, dann der Herausgeber und: Du warst ein Freund. Nie fühlte ich mich wie eine „mütterliche Freundin“, es liegen fast zwei Generationen zwischen uns. Am Ende war der zeitliche Zwischenraum ganz klein geworden. Meine Briefe, oft auf Zettel geschrieben, oft auf Rückseiten, oft mit Gedichtzeilen angereichert, befinden sich in Deinem Nachlaß. Ich hätte gern gewußt, wie sich die Briefe lesen, die ich einem siebzehnjährigen Schüler, einem cand. phil., dann einem Literaten, der seinen ersten Roman veröffentlicht hatte, und wie die Briefe, die ich geschrieben habe, als ich wußte, daß Du todkrank warst, was wir beide über lange Zeit nicht wahrhaben wollten. Immer haben wir gesagt und geschrieben: Du bist die Ausnahme, Du bist das Wunder, Gott erhört Gebete.
Ich benutze nicht mehr das Präsens, es gibt keine Gegenwart mehr, nur für mich. Gegenwart, in der ich Dich vermisse, ich vermisse auch den Mitarbeiter, bei dem ich anrufen konnte und fragen: Wo muß ich suchen? Wo steht das? Du hattest ein junges Gedächtnis, es war noch nicht überfüllt wie meines. Wir waren aufeinander eingespielt.
In einem Deiner Briefe steht: „Was für ein schönes Bild. Ihr beide sekttrinkend im Verlagshochhaus in Berlin. Was waren wir einmal ahnungslose glückliche Menschen! Gestern schaute ich mir eine nicht unerfreuliche halbe Stunde lang ältere Fotografien an, mit dem Gefühl der Sympathie gegenüber diesem im ganzen doch recht aufgeweckten, meist lachenden Menschen, der meinen Namen trug und an den ich mich gut und gern erinnere. Auch heute lache ich auf den meisten Fotos, ein anderes Lachen. Nicht mehr ,wegen‘, sondern ,trotz‘.“
Das ist schon einer Deiner letzten Briefe, schon aus der neuen Wohnung, eine richtige Berliner Adresse. Eine Dachwohnung, ein Dachgarten. Ich entbehre Deine Briefe, aber ich entbehre auch, daß ich Dir nicht mehr schreiben kann. Es hat so vieles gegeben, gibt es auch heute noch, das nur für Dich bestimmt war, für keinen anderen. Wir warfen uns Gedichtzeilen zu, ich schrieb vom „rundgang zu zwein“, den wir oft mit Dir geteilt haben, und in Deinem letzten Brief steht dann: „Verschweigen wir, was uns verwehrt ist!“ Das Ausrufungszeichen ersetzt den Seufzer.
Im selben Atemzug zitierst Du Rilke und Borchert: „ ,Nimm dir vor, als Kaiser von Europa aufzuwachen - und sieh du bist´s!‘ Ich danke Ihm - damit ist nicht Rilke gemeint! -, daß ich diese Gabe besitze. Freilich werde ich auch manchmal wach und denke: ,Ach, du armes Luder‘, und das stimmt auch.“ Das ist dann Borchert, jener Borchert, der „Draußen vor der Tür“ geschrieben und die Aufführung seines berühmt gewordenen Stückes nicht mehr erlebt hat. Der Brief schließt: „ ,Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernst ist‘, sagt der Apostel Paulus. Davon gehen wir, beiderseits, aus.“
Wir haben uns oft unsere Träume mitgeteilt, unbekümmert, dem anderen vertrauend. In der letzten Nacht träumte ich: Ich befand mich in einer heiteren Gesellschaft. Keiner war mir bekannt. Es herrschte freundliches Durcheinander, erwartungsvoller Aufbruch, aber: wohin? Es gab einen Gastgeber, der ein wenig lenkte, ich war die einzige, die wußte, daß es sein Geburtstag war. Um Mitternacht legte ich ihm die Arme um die Schultern, küßte ihn leicht auf beide Wangen, ein Augen-Blick des Einverständnisses. Dann brachen wir auf, mit leichtem
Gepäck, kamen an einen gewölbten Gang, dessen Boden
mit hellem Sand aufgeschüttet war; es ging sich nicht
leicht. Wir kamen an das Ende, kamen in gleißende Hel-
ligkeit, immer noch Sand unter den Füßen, aber an beiden
Seiten klares Wasser, flach, ohne Wellen, aus dem Sand
und aus dem Meer stiegen weiße, schöne geformte Felsen
auf. Ich war entzückt! Ich suchte nach einem Badeanzug,
fand keinen, bevor ich unbekleidet das Wasser erreicht
hatte, wachte ich auf, leicht und hell – ich war in einer an-
deren, der anderen Welt, in der es licht ist, kein Horizont,
keine Vegetation, aber: Entbehrt habe ich nichts, die an-
deren Menschen – wo waren sie geblieben? Zuletzt war
ich allein...
Dann nur noch wenig Briefe, die letzten kaum leser-
lich, mit der Hand geschrieben. Zuletzt die Nachrufe aus
den Zeitungen. Wenn einer stirbt und ist zweiunddreißig
Jahre alt geworden, und unter den Todesanzeigen stehen
viele Namen, meist nur Vornamen, viele männliche, dann
weiß man Bescheid: Aids. Man hatte das neutrale Alpha-
bet gewählt, das mich ziemlich an den Anfang setzte, Küh-
ner in die Mitte. Du hast ihn meist >Kühner< genannt,
was ich mir auch angewöhnt habe, auch die Anrede wird
ernster. Die zärtlichen Anreden habe ich auch in den bio-
graphischen Texten nicht preisgegeben, allenfalls im
>Glücklichen Buch der a.p.<. Causa fortunae – Ursache
des Glücks. Sagt man Glück, schließt man Unglück mit
ein.
Einer Deiner Freunde wird das Gedicht ausgewählt ha-
ben, das über der Anzeige steht, die Deinen Tod mitteilt.
Es heißt >Andererseits<:

> Von der anderen Seite
Betrachtet, vom Ende, wird
es doch deutlicher werden,
dieses Leben, den Blicken,
nicht meinen mehr.<

Man hat dich auf dem Domkirchhof begraben, er gehört
zum Berliner Dom, ehemals Ostberlin. Der Dompredi-
ger hat Dir die Totenrede gehalten, er soll gesagt haben,
daß er keinen besseren Zuhörer hatte als Dich. Du bist,
soweit es deine Kräfte zuließen, regelmäßig in seine Got-
tesdienste gegangen oder am Samstagabend in die Ge-
dächtniskirche, wenn Du wußtest, daß die Nacht kurz
wird und Du am Sonntag nicht früh aufstehen würdest.
>Ich hole mir meinen Segen schon im voraus.< Mit dieser
Leichtigkeit sprachst Du über Ihn, über Seinen Segen,
über das Beten. Wenn Du für Wochen bei uns warst,
wurde das Mittagsgebet nicht aufgegeben, was wir bei an-
deren Gästen meist tun. Wir gingen miteinander zum
Gottesdienst, auch zum Abendmahl.
Du schreibst >Wir haben auf der Terrasse gefrüh-
stückt, im April!< - >Ich bin zweimal im Zimmer auf und
ab gegangen!< Das schreibst Du, um mit guten Nachrich-
ten zu beginnen. >Ich backe kleine Brötchen, aber ich
backe.< Ein solcher Satz teilt mir mit, daß einige Gedicht-
zeilen geschrieben wurden, >abgesondert< steht da. In
dem Jahr, das nun fast vergangen ist, habe ich manches
Mal in Deinen frühen Gedichten gelesen. Von Anfang an
gibt es diese Todesahnungen. Mit leichter Hand geschrie-
ben. Das wollten wir ja beide, dass es leicht sei, dass es uns
geraten sollte, das Schwere leichter zu nehmen, als es ist,
und das Leichte schwerer.

Als unsere Freunde, die Dich seit Jahren kannten und
gern hatten, gern mit diesem gescheiten jungen Litaraten
umgingen, trotz des großen Altersunterschiedes, als sie
von Deinem Tod erfuhren, haben sie endlich gefragt, was
sie schon lange wissen wollten: War er denn -? In meiner
Generation hat man Hemmungen, über Andersartigkeit
zu sprechen, man umschreibt. Als Du >es< mir gesagt
hast, saßen wir auf neutralem Boden, in einem Café. Spä-
ter sagten wir: Müssen wir mal wieder ins Café Paulus ge-
hen? Damals hast Du mich aus den dunklen großen
Augen angesehen und gesagt:>Ich habe mir diese Veran-
lagung nicht ausgesucht.< Diesen einfachen Satz habe ich
verstanden. Aber damals habe ich gedacht, es geht vorbei,
das soll es bei vielen jungen Männern geben, diese Nei-
gung zum eigenen Geschlecht, bis dann eine Frau kommt,
die den Bann bricht. So etwas werde ich gedacht haben.
Und als man von Aids hörte, von Immunschwä-
che und welche Menschengruppe gefährdet sei, doppelt
gefährdet, da habe ich in weiten Abständen nachgefragt.
>Lassen Sie sich regelmäßig untersuchen?< Später erst das
Du. HIV, das Kürzel, das mich an Sportvereine denken
ließ, habe ich nie benutzt. Der Prozentsatz der Infizierten
wurde in Zeitungen und im TV mitgeteilt. Die Nachrich-
ten wurden bedrohlicher, es haftete den Berichten etwas
Schmähliches an. Kühner war es, der einmal sagte: >Es
kann doch auf einen Augenblick des Glücks nicht die To-
desstrafe stehen!< So drückt er sich aus, und soviel weiß
ich von Dir, daß es sich um Liebe gehandelt haben wird,
um heftige Zuneigung und ganz gewiß um die Augenblicke
des Glücks und auch des tiefen Unglücks. Es kam zu
Trennungen. Den wirklichen Partner, den wirklich zuge-
hörigen Freund, hast Du nicht gefunden.

Wir kommen nicht mehr oft in unseren Park. Der Weg
Um den See wird Kühner zu weit; aber vor wenigen Tagen
waren wir dort und entdeckten einen Baum, den wir noch
nicht kannten, hoch gewachsen, mit lichtem Laubwerk;
Zwischen den grünen Blättern leichte weiße im Wind, als
hätten Kinder Taschentücher zum Trocknen aufgehängt.
Wir nannten ihn den Wäschebaum, bis wir ein Schild ent-
Deckten: Taubenbaum. Er blüht erst nach fünfzehn Jah-
ren! Der Weg vom Park zurück ist nicht lang, aber das
lateinische Wort für diesen Baum ist länger, ich konnte es
mir nicht merken. Bäume! >Bäume haben immer recht<,
pflegte der alte Quindt auf Poenichen zu sagen. Eine Le-
serin aus Kanada hat mir eine rührende Geschichte ge-
schrieben. Bevor ihr Vater nach Kanada auswanderte,
auswandern musste, hat er sich von dem Kastanienbaum,
der vor seinem Berliner Haus stand, eine Kastanie mitge-
nommen, hat sie eingepflanzt, sie ist aufgegangen, zu
einem mächtigen Baum herangewachsen. Kastanienm-
bäume sind in Kanada eine Seltenheit. Als sein Sohn
hörte, daß der Ur-Kastanienbaum in Berlin gefällt sei, hat
er auf seine Reise in das nicht mehr geteilte Berlin eine
Kastanie mitgenommen und sie an jener Stelle... Ein En-
kel des damaligen Ur-Baumes. Die Geschichte wird hier
Rührselig, man traut sich nicht, sie zu erzählen, dabei üben
solche Geschichten eine tröstende Gewissheit beim Hö-
ren oder Lesen aus: Es wird weiter gehen mit dieser Welt.
Du hast behauptet, der Westen Berlins gehört den Kasta-
nienbäumen, der Osten den Linden. Aber dieser Kasta-
nienbaum, der nach dem zweiten Weltkrieg verheizt wor-
den ist, der stand im Osten, vor dem Haus eines Juden.
Wenn ich, füher, nach Berlin fuhr, damals waren es
noch sieben oder acht Bahnstunden in DDR-Zügen, auf
DDR-Gleisen - Du standest am Bahnhof Zoo, wo ich im-
mer mit Verspätung eintraf. Du hieltest eine langstielige
Rose in der Hand, winktest mir zu, und wenn Du
zu uns nach Kassel kamst, zu Sommerferien, zu Weih-
nachten, dann standest Du mit einer langstieligen roten
Rose vor der Haustür. >>Eine Rose als Stütze<<, der Tietel
wurde und wird oft zitiert, einer der schönsten frühen Ge-
dichtbände der Hilde Domin. Mein Rosenkavalier!
Ich erinnere Mich. Das Pfingstfest 1990. In meinem
Heimatdorf wurde die neue Orgel geweiht. Es war ein
liebliches Fest voller Freude und Musik. Der Posaunen-
chor des Dorfes blies >>Die Himmel rühmen des Ewigen
Ehre<<, und wir spürten, daß sich das Kirchendach gleich
heben würde. Der Landeskirchenmusikdirektor an der
neuen Orgel, seine junge Frau sang. Du hast beide ge-
kannt und geschätzt. Der Organist: Anfang Sechzig, vol-
ler Pläne und, wie wir glaubten, gesund; nun ist er tot,
das weißt du noch nicht. Herzinfarkt während eines Kir-
chenkonzerts, das geht dann schnell. Und bei Dir dieser
langsame und gewisse Tod. Als letztes hat er zu seiner
Frau gesagt: Weitersingen -.
Ich lese in Deinen Briefen. Du berichtest vom Katholi-
kentag in Berlin und von den Nonnen auf dem Alexan-
derplatz. Was für ein ungewohnter Anblick! Du lobtest
de Maizière, dessen Namen wir schon fast vergessen ha-
ben, lobtest seine unaufgeregte Art. Wir fanden es verhei-
ßungsvoll, daß es einen Politiker gab, der die Bratsche
spielte, aber in Deinem Brief ging es um etwas anderes.
>>Vor jeder Sitzung kommt er mit einer großen Schar Ab-
geordneter aller Fraktionen, außer der kommunistischen,
in den Dom zur Andacht. Das eine oder andere könnten
wir von dieser (dieser unterstrichen) DDR vielleicht über-
nehmen...Sehe ich denn nur das Positive<<, schreibst Du,
>>da mir am Geld nichts liegt und an der Freiheit so viel?
Aber es ist doch großartig, was geschieht, daß es ohne na-
tionalistischen Beiklang funktioniert, daß en passant so-
gar die Republikaner auf dem Müllhaufen der Geschichte
landen. Und heiter und festlich promeniert Berlin unter
Linden, Untern Linden.-Das hast Du ja selbst erlebt!<<
Ach, was ist aus all den Vorstellungen und Vorsätzen geworden, erstickt in Korruption und Denunziation.
In demselben Jahr hast Du unter den Brief nach Deinem Geburtstag geschrieben: >>Wie sagt Ochs von Lechenau? >Euer Gnaden haben heut durch unverdiente Huld mich tief beschämt!< <<
>>Wohin denn ich<< hat Marie Luise Kaschnitz den Gedichtband genannt, den sie nach dem Tod des geliebten Mannes veröffentlicht hat. Wenn wir diese Zeile benutzen, was wir oft tun, denken wir an diese Frau, an den ratlosen Schmerz derer, die übriggeblieben ist. Ich wußte nicht, daß sie Hölderlin zitiert. In dem Gedicht >>Abendphantasie<<, das Hölderlin mit neunundzwanzig schrieb, steht diese Frage: >>Wohin denn ich<<. Da sehnt sich ein junger unruhiger Dichter und endet sein Gedicht mit der Zeile: >>Friedlich und heiter ist dann das Alter.<< So war es nicht für Hölderlin, so ist es nur selten, aber so wünschen wir es uns: friedlich und heiter. Schon lange befindet sich Marie Luise Kaschnitz mit ihren Werken in der >>Nekropole<<, wo die Bücher der Klassiker alphabetisch geordnet stehen. Die Frage >>Wohin denn ich<< wurde durch den Tod beantwortet. Noch bist Du mit Deinen Büchern nicht zu den toten Autoren umgezogen, weg von den Zeitgenossen; es sind nur wenige Bände, und die Bände sind schmal. Eben habe ich nahcgesehen, in wessen Nachbarschaft Du kommen wirst, nach einer Zeit der Bewährung - wenn dann noch Ordnung herrscht in der Bibliothek, Ordnung, die Du hergestellt hast. Du wirst zwischen Dylan Thomas und Tolstoi zu stehen kommen, wäre Dir das recht? Noch steht zu Deiner Linken >>Die schöne Frau Seidemann<<, zu Deiner Rechten Tourniers >>Erlenkönig<< - und Du? Wo liegst Du? Wer ruht neben Dir? Vermutlich werde ich Dein Grab niemals sehen. Ich weiß nicht, ob es einen Grabstein gibt. Leicht müsste er sein, nichts, was Dich beschwert.
Bei der Neuausgabe jener Bücher von mir, die Du herausgegeben hast, mußten Deine biographischen Angaben ergänzt werden. Geboren 1961, gestorben 1993. Niemand übersetzt mir mehr die französische oder englische Korrespondenz; Du gingst über meine fremdsprachigen Unfähigkeiten hinweg. Ich vermisse Dich so sehr. Hat Dich der Umgang mit uns älter gemacht? Du hast uns viel von Deinem Jung-sein abgegeben.
Unter Deinen letzten Briefen steht >>Dein (alter Freund) g. t.<<. Das bist Du geworden. Du hast noch einmal Fotografien geschickt, ich sollte die neue helle Dachwohnung bewundern. Ich habe die Bilder weggelegt, weil ich es nicht ertragen konnte: der Kopf eines Greises, der doch eben erst dreißig war, aber lachend. Was hattest Du zu lachen? Damals plante ich bereits die Herausgabe von Briefen an alte Freunde.
Ich lese in Deinen Gedichten, lese:
>>Ich wußte keine
Fragen.
Du
keine Antwort. So
war es gut.
Aus der
Ferne
beinha
scheint es mir
Glück.<<
Das letzte Wort >>Glück<< weit abgerückt. Wortarme Gedichte, weite Lücken zwischen den Worten. Gestern abend sah ich Tolstoi auf dem Bildschirm, mit fünfundsiebzig Jahren erreichte ihn der große Theatererfolg. Auch er sprach von Fragen. Er sagte: >>Die Antworten wechseln, die Fragen bleiben.<< Auch das lakonisch, und auch das stimmt. Die Fragen bleiben.
Ich habe mir unser Gästebuch hervorgeholt und gelesen, was Du am zweiten Pfingsttag 1990 eingetragen hast. Die vorgedruckten Fragen, Deine Antworten. Auf die Frage, was das größte Unglück für Dich wäre, hast Du geantwortet: >>Das es keinen Gott gäbe.<< Eine andere Frage lautet: >>Wie möchten Sie sterben?<< Und da hast Du geschrieben: >>Zuversichtlich.<< Wußtest Du damals schon Bescheid? Ich kenne das Datum nicht, oder habe ich es verdrängt? Lange Zeit habe ich es nicht wahrhaben wollen, habe aufgehört zu fragen. Wir, mein Mann und ich, wir bewegten uns selbst so nah an der Todesgrenze; Du hast uns oft Beistand geleistet. Warst Du, zuallerletzt, dann doch zuversichtlich? >>Sein Gesicht wurde hell, die Qualen waren vorbei, er war erleuchtet.<< So haben mir es die, die bis zuletzt bei Dir waren, berichtet. Du hast viel Hilfe erfahren, von Ärzten, Pflegern, dem Vater, Deiner geliebten jüngeren Schwester, die alles aufgab, um in dem letzten halben Lebensjahr bei Dir zu sein. Wir haben diese junge Frau sehr bewundert. Ich bin nicht gekommen. Ich war da nicht zuständig, ich bin hier zuständig. Nicht abkömmlich.
Deine Antworten im Gästebuch sind nicht immer ernst gemeint, bei Dir und bei mir gibt es auch den Halbernst, es ist ein schmaler Grat, auf dem man balanciert. Die Frage nach Deiner Lieblingstugend hast Du mit einem Brecht-Zitat beantwortet, das ich nicht kannte. Wo steht es, wen soll ich fragen? >>Mag´s wenn Tugend einen Hintern, und ein Hintern Tugend hat.<<
Endlich lese ich ein Buch von Philip Roth, diesem Amerikaner. >>Mein Leben als Mann<<. Du hast es mir vor Jahren bereits empfohlen, ich las damals einige wenige Zeilen, die mcih abstießen, die ich brutal und obzön fand. Hatte ich mich geirrt? Das Brecht-Zitat ist bei ihm am Platz, die Sache wird beim Namen genannt, nichts scheint um des effektes willen geschrieben, aber: Es ist eine Welt und eine Ausdrucksweise, die mir fremd ist. Ich muß wohl dankbar sein, daß nie jemand die Schutzhülle, unter der ich lebe, zu zerreißen versucht hat. Ich war und bin behütet.
Die erste Frage unseres Fragebogens heißt: >>Was ist für Sie das größte Unglück?<< Einmal heißt es >wäre<, einmal >ist<. Du hast geschrieben: >>Das größte? Steht noch dahin.<< War das Ahnung? Hätte ich, als ich in Deiner Gegenwart die Antworten gelesen habe, nachfragen sollen? Wir sind uns nie zu nahe gekommen. Liebevolle Distanz. War Tod ein Unglück? Du hast gern gelebt! Und konntest es zeigen und aussprechen, das können nur wenige. Bei Deinen letzten Besuchen, als es Dir bereits schlecht ging und Du viele Medikamente schlucken mußtest, habe ich Dir morgens eine Tasse starken schwarzen Tee vor die Tür gestellt, damit Du besser auf die Beine kamst. Viel war das nicht. Ich wollte eine Nothelferin sein, Du brauchtest viele Nothelfer. Ich habe Dir - vor allem brieflich - die Hand in den Rücken gelegt, Du warst leicht, wurdest immer leichter. Ein Nichts an körperlicher Substanz, aber ein kräftiger Geist, der standhalten wollte, und immer: das Wunder! Wir haben an ein Wunder geglaubt, daran konnte uns keine Statistik hindern. Leben! Und nun: ewiges Leben. Du hast mich überholt. Das stand Dir nicht zu. Ohne es auszusprechen oder auch nur auszudenken, war sicher, daß Du der Verwalter des literarischen Nachlasses sein würdest. Ein wenig finanzielle Sicherheit konnte ich Dir auch zu Lebzeiten bieten.
Die erste Wespe traf in diesem Frühling schon im April ein. Wir saßen auf der terasse, aßen unser Abendbrot, da schwirrte sie bösartig hervor, und wie aus einem Mund: Gunther! Auch Wespen erinnern uns an Dich. Sie schienen es immer auf Dich abgesehen zu haben, Du sparngst auf, schlugst um Dich, gestochen hat Dich keine, aber: Du fühltest Dich angegriffen. Seit Tagen brummen nun Wespen ums Haus, langsam fliegend, wohlbeleibt. Wir fragen uns, wo sie den Winter verbarcht haben könnten, und: Was wollen sie bei uns? Mit einer Fliegenklatsche lanciere ich sie durch die Terassentür, Tötungsabsichten hege ich nicht. Vor Tagen stand in der Zietung, daß es sich um Königinnen handele, die einen Platz suchen, an dem sie Tausende von Eiern ablegen werden. Königinnen, nun ja, aber doch bitte nicht in unserem kleinen Haus, und möglichst auch nicht in dem kleinen Garten, den wir für uns benötigen.
Gestern traf ich gegen Abend einen Nachbarn auf dem Gartenweg. Er ging zum Parkplatz. Weiterhin fährt er zweimal am Tag auf den Friedhof, abends läßt er sich dort einschließen, benutzt später die Drehtür. Du kennst ihn, weißt, daß seine Frau schon mehrere Jahre tot ist. Gestern unterhielten wir uns ein wenig, über den Garten, den Freidhof. Er erzählt, daß er an jedem Tag seiner Frau einen Brief schreibt. Er sammelt diese Briefe in Mappen. Ein Tagebuch, gemeinsame Lebenserinnerungen, eigen, falls es die überhaupt noch gibt.
Es ist also nichts Ungewöhnliches, wenn man einem Toten schreibt. >>Briefe, die ihn nie erreichten<<, das war einmal ein vielgelesenes Buch, lange vor Deiner kurzen Zeit. Georg Hensel, der Theater-Hensel der FAZ, Du kanntest ihn natürlich, hat seine Lebenserinnerungen herausgegeben, >>Glück gehabt<< - was für ein Titel! Vor einer großen Herzoperation hat der Chirurg zu ihm gesagt: >>Alles andere steht in Gottes Hand.<< Und wie kommentiert Hensel diesen Chirurgensatz: >>Geht man über einen Friedhof, erkennt man, daß es ein gefährlicher Aufenthaltsort ist.<<

>>Was ich sagen wollte:

Mir ist aufgefallen,
daß ich jetzt näher dran bin.

Am Himmel.

So hoch bin ich noch nie hinausgekommen.<<

Ich schreibe Dir Deine Gedichte! Warum? Du sollst wissen, daß etwas bleibt, ein paar Zielen.

Sommer 1994 Deine altgewordene c. b.




Für das Einstellen dieses posthumen Briefes von Christine Brückner an g.t. in diesen Blog bekamen wir eine sog. Kleinlizenz.

Der Text darf nicht bearbeitet/verändert werden.

Copyright-Vermerk:
Christine Brückner: Lieber alter Freund
(c) 1996 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

1 Kommentar:

  1. Darf ich fragen, wie viel so eine Kleinlizenz kostet?
    Danke,
    Gruß Achiim

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